Nicole Thurn ● 3.4.2019

Selbstorganisation: Die größten Fallen

Selbstorganisiertes Arbeiten bedeutet mehr, als neue Tools und Methoden für Projekte und Teams einzuführen oder das Zeitmanagement zu verbessern. Mitarbeiter tun gut daran, auch an sich selbst  zu arbeiten, sonst lauern fiese Fallen.

Wenn über Selbstorganisation gesprochen oder geschrieben wird, geht es meist um Scrum, agiles Arbeiten, um Teams und Tools. Selbstorganisation kann sehr vorteilhaft sein – wenn man sie richtig umsetzt. Dann bringt sie bessere Ideen, raschere Entscheidungen und marktgerechtere Produkte. Doch eher selten geht es um die Auswirkungen dieser Methoden auf den einzelnen Mitarbeiter. Dabei wirkt sich die Veränderung der Arbeitsweise doch massiv auf Motivation und Zufriedenheit des Einzelnen aus. Early Adopters und Freigeister fühlen sich vielleicht beflügelt, andere reagieren zurückhaltend oder misstrauisch. Kalt lässt das Thema wohl niemanden, der davon betroffen ist.

Selbstorganisation: Wollen ist nicht genug

Selbstorganisation ist per se noch kein Allheilmittel gegen mangelnde Produktivität, Ineffizienz und Innovationsmangel. Selbstorganisation rüttelt am Gefüge der Unternehmensstruktur, der Teamstruktur – und der Denkstruktur jedes Einzelnen, die per Command and Control im Industriezeitalter sozialisiert wurde. „Neues Arbeiten zu erlernen fällt uns meist schwer“, sagt Silke Nevermann,  Expertin für digitale Transformation, die sich mit ihrem Unternehmen Office Concepts auf die Einführung neuer Arbeitswelten in traditionellen Unternehmen spezialisiert hat. Das Wollen alleine reicht jedenfalls nicht.

„Mitarbeiter müssen häufig erst ein Verantwortungsgefühl für ihre Arbeitsbereiche, ihre Kunden und Kollegen entwickeln – genauso wie Führungskräfte lernen müssen, Machtansprüche loszulassen und mit Kontrollverlust umzugehen. Nicht jeder hat das entsprechende Selbstbewusstsein dafür.“

Portrait Silke Nevermann

Silke Nevermann (Digital-Transformation-Expertin und Trainerin)

 

 

Dieser Prozess der Persönlichkeitsentwicklung benötigt Zeit und Geduld  – was meist nur spärlich vorhanden ist. Ein großer Fehler von Unternehmen sei es, die Mitarbeiter in diesem Prozess alleine zu lassen. „Das muss zumindest moderiert werden. Ein Kurzworkshop in agilem Arbeiten reicht definitiv nicht aus“, so Silke Nevermann. Sie empfiehlt betroffenen Mitarbeitern, sich regelmäßig die Frage zu stellen: „Für wen mache ich das, was ich tue, gerade?“ Das öffnet den Blick für die eigene Verantwortung, „dann erkennt man den Impact für die eigene Arbeitsleistung klarer.“

Reif für Disziplin und Offenheit

Die Selbstorganisation im Team erfordert auch Selbstdisziplin und die Fähigkeit zum Selbstmanagement. Bei Scrum etwa folgt das Team zwar bestimmten Regeln für das sogenannte Planning und die Sprints, also die zweiwöchigen Testzyklen für verschiedene Aufgabenfelder. Tägliche Standup Meetings sorgen für viel Austausch und einen gemeinsamen Wissensstand. Wirklich gut funktioniert selbstorganisiertes Arbeiten allerdings nur mit offener Kommunikation und einem vertrauensvollen und wertschätzenden Umgang. Dabei helfen die Rollen im Team – so hat der Scrum Master etwa die Aufgabe, das Team auf das agile Mindset einzuschwören. Allerdings hängt das Gelingen der offenen Kommunikation auch von der Persönlichkeitsreife jedes Einzelnen ab. Auch hier ist also wieder jedes einzelne Teammitglied gefragt, an sich selbst zu arbeiten.

Die besten Collaboration Tools im Vergleich:

Collaboration Tools im Vergleich

ScrumBut und die agile Erschöpfung

Es wird  getestet, überarbeitet, besprochen. Immer wieder wird das Produkt adaptiert, werden scheinbare Lösungen verworfen. Das Produkt muss pünktlich auf den Markt, der Kunde zufrieden gestellt werden. Zeit ist Luxus. Arbeitet das Team seine Aufgaben (in Scrum: „Backlogs“) rasch genug ab? Wenn das Projekt nicht mehr traditionell Schritt für Schritt ausgerollt wird, sondern parallel an verschiedensten Ecken und Enden bearbeitet wird, garantiert das hohe Geschwindigkeit – und schlimmstenfalls einen erhöhten Arbeitspuls bis zum Umfallen. Zahlen belegen, dass Scrum zu höheren Burnoutraten führen kann. Das Gefühl ewig offener ewiger To-Dos, iterative Arbeitsschleifen, der Wunsch nach mehr Effizienz: all das kann zur Erschöpfung führen. Man spricht hier auch von „Scrum Fatigue“ oder „Agile Fatigue“. Die Ursache liegt hier meist im Detail: etwa in unklaren Zuständigkeiten oder schlechter Zusammenarbeit.  Hier hat sich der Begriff ScrumBut durchgesetzt – er meint die halbherzige Umsetzung der Methode nach dem Motto „We use Scrum, but…“.  

In Zeiten der Entgrenzung und der virtuellen Teams ist es auch wichtig, die eigenen Grenzen des Bewältigbaren zu erkennen – und auch mal Nein zu sagen. „Wenn ich nach einem Meeting plötzlich bemerke: ich habe drei Dinge auf meiner To-Do-Liste, die gar nicht zu meinen Aufgaben gehören, ist das ärgerlich und muss kommuniziert werden“, sagt Coach, Achtsamkeitstrainerin und Yogalehrerin Christine Maurer. Besser ist es, allerdings schon während des Meetings zu bemerken, wo Grenzen überschritten werden oder Unklarheiten beseitigt werden müssen. Auch zu bemerken, wann Erholungsphasen angebracht sind, ist gerade beim selbstverantwortlichen Arbeiten wesentlich. „Einfach "nur" den nächsten Mindfulness-Kurs zu konsumieren, um noch effizienter und belastbarer zu werden, ist jedenfalls der falsche Weg“, sagt Christine Maurer. „Achtsamkeit ist kein Selbstoptimierungstool. Im Gegenteil: sie hilft uns dabei, wahrzunehmen, was ist – auch die eigene Wut oder Hilflosigkeit.“ Gerade wenn die Fürsorgepflicht der Führungskraft für ihre Mitarbeiter entfällt, weil es die Führungskraft gar nicht mehr gibt, sei der Einzelne in seiner Selbstfürsorge gefragt.

Im Kern brauchen Mitarbeiter in der Selbstorganisation also „die Fähigkeit zur gedanklichen und verhaltensbezogenen Selbstführung“, resümiert Silke Nevermann. Wenn das Unternehmen dabei hilft – umso besser.

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