Nicole Thurn ● 2.4.2021
Authentisch führen: Echt sein ist nicht genug
Seid authentisch, führt authentisch! Was wie eine sinnvolle Maxime einer menschzentrierten Arbeitswelt klingt, bleibt oft nur eine hohle Phrase. Warum?
Authentisches Leadership
Oftmals wird dieser Tage die "authentisches Leadership" beschworen. Das klingt erst einmal plausibel und willkommen, wollen viele doch weg von der industriezeitalterlichen Ellbogenmentalität, von der systematischen Kompetenzblendung und von wichtigtuerischen Emporkömmlingen, die schneller Demotivation verbreiten als man das Wort "Employer Branding" buchstabieren kann.
Was bedeutet es, authentisch zu sein? "Authentizität", dieses sperrige Wort, geistert zunehmend durch soziale Medien und über virtuelle Bühnen. Darüber haben sich schon große Philosophen wie Martin Heidegger, Michel Foucault oder Jean-Paul Sartre ihre Köpfe zermartert. Der Begriff selbst stammt vom griechischen authentikós, was soviel bedeutet wie "echt sein".
Authentisch zu sein, diese hehre Forderung kann, falsch adressiert, vorerst auch schief gehen – je nachdem wen sie trifft. Ein ausgemachter Choleriker hat die Fähigkeit, durchaus authentisch seinen Wutanfällen freien Lauf lassen, eine allzu selbstgerechte Chefin gießt vielleicht gern und ultraauthentisch unverhohlen ihre abschätzigen Urteile über ihre Mitarbeiter. Der junge und sehr unsichere Neo-Abteilungsleiter ist mit Sicherheit authentisch, wenn er jedem erzählt, dass er die meiste Zeit über einfach nicht weiß, was er am besten tun soll.
Nur: Mit solch einer Authentizität allein ist niemandem geholfen – den Führungskräften selbst nicht, den Mitarbeitern nicht und schon gar nicht dem Unternehmen an sich.
Authentisches Handeln
In einer allzu authentischen Welt würden wir alle durchdrehen – solange wir in unserem Denken, Fühlen und Handeln unbewusst sind. Wir würden uns alles Mögliche an die Köpfe werfen, würden Sündenböcke öffentlich anprangern und würden losstürmen, um Parlamente abzufackeln. Denn solange wir unsere Emotionen, unsere Glaubenssätze und Biases reflexartig ausagieren, solange das Unterbewusstsein die wahrer Kontrolle über uns hat, solange ist Authentizität auch Gift. In diesen Fällen ist es vermutlich besser, zu verdrängen, zu blenden und gute Miene zum bösen Spiel zu machen.
Die schlechte Nachricht dabei lautet: Das Unterbewusstsein beeinflusst zu etwa 95 Prozent unser tägliches Denken und Tun.
Daher glaube ich, dass authentisches Handeln, das ja stets auf das Umfeld und die anderen bezogen ist, eines als Fundament braucht: eine reife Persönlichkeit mit ausgeprägtem Selbst-Bewusstsein.
Laut den Sozialpsychologen Michael Kernis und Brian Goldman ist dies auch bereits ein Teil des Wesens authentischer Menschen:
1. Bewusstheit (awareness): Ein authentischer Mensch kennt seine Stärken, Schwächen, seine Reaktionsmuster und Motive. Um sich selbst bewusst zu werden, hat er sich in Selbstreflexion geübt, aber auch Feedback von außen eingeholt bzw. es angenommen.
2. Urteilsfreie Verarbeitung (unbiased processing): Man schätzt seine eigenen Fähigkeiten und Schwächen auf der Basis der eigenen Bewusstheit und des Feedbacks von außen realistisch und möglichst objektiv ein.
3. Authentisches Verhalten (behaviour): Ein authentischer Mensch verhält sich passend zu seiner Haltung und zu seinen Werten, seinen Präferenzen und Bedürfnissen. Er verbiegt sich nicht für andere, ist weder "People-Pleaser" noch will er irgendwelchen normativen Erwartungen und kollektiven Glaubensätzen (ein guter Manager darf keine Gefühle zeigen/muss mit harter Hand führen etc.) unterwerfen, die ihm nicht entsprechen.
4. Beziehungsorientierung (relational orientation): Man zeigt in Beziehungen und im sozialen Umfeld aufrichtig sein "wahres Selbst", verleugnet sich, seine Einstellung, Meinungen und Werte nicht. Man steht offen zu sich selbst.
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Vom "Drift" zum "Shift"
Authentisches Verhalten beginnt also bei der Selbst-Bewusstheit. Im neu erschienenen Buch "The 15 Commitments of Conscious Leadership" schreiben die Autoren Jim Dethmer, Diana Chapman und Kaley Warner Klemp, dass ein wesentlicher Faktor für bewusstes Leadership sei, vom "Drift" des eigenen Bewusstseins zum "Shift" zu gelangen. Wenn wir – egal ob Führungskräfte oder nicht – von einem äußeren Ereignis oder Reiz getriggert werden, neigen wir dazu, reflexartig zu reagieren ("Drift").
Ein Beispiel: Mitarbeiter A hat den Zwischenbericht für ein Projekt nicht rechtzeitig fertig gestellt. Die Führungskraft ist genervt, weil der Mitarbeiter zum wiederholten Male unzuverlässig ist – zumindest ist das ihre Wahrnehmung. Variante A: Innerlich steigt Wut auf, die Führungskraft schnauzt den Mitarbeiter an, was dieser Sch… soll und verfällt somit in den Drift – sie verliert die Selbstkontrolle. Variante B: Sie holt tief Luft, nimmt den Trigger (z.B. der Glaubenssatz: "der Mitarbeiter lässt mich hängen") wahr, beruhigt die körperliche Wutreaktion und beobachtet die eigenen Gedanken dazu. Das befähigt sie wiederum, den Mitarbeiter ruhig, aber bestimmt zu einer Aussprache zu bitten ("Shift").
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Wir shiften also unser Bewusstsein auf ein höheres Level, von dem aus wir nicht mehr Gefangene unserer Reaktionsmuster sind, sondern souverän agieren können. Natürlich gelingt das nicht auf Anhieb – schon gar nicht impulsiven Geistern – aber mit etwas Übung dehnt sich die Zeit zwischen Reiz und Reaktion aus. Man reagiert nicht mehr reflexiv, sondern zunehmend bewusst.
Authentisch sind wohl beide Reaktionen (wenn ich wütend bin und es rauslasse, zeige ich mich so, wie ich im Moment tatsächlich bin). Doch während die erste Wutreaktion destruktiv ist, verweist die zweite auf einen konstruktiven Lösungsversuch. Es ist also nicht nur die Frage, ob Führungskräfte authentisch agieren, sondern wie bewusst und reif sie agieren. Dazu gehört auch die Grundhaltung, stets offen für Feedback und Lernen zu sein – anstatt etwa sich profilieren und recht haben zu wollen.
Was sind die eigenen Werte, die eigenen Stärken und Schwächen, worin liegt die eigene Motivation, aus welchen Erfahrungen hat man was gelernt? Selbst-Bewusstheit und die dazu notwendige Selbstreflexion verbessern den Umgang mit sich selbst – und dadurch auch den bewussten Umgang mit anderen. Wer authentisch führen will, kommt also nicht umhin, sich zu einer bewussten und somit "gereiften" Persönlichkeit zu entwickeln.