Lars-Peter Linke ● 21.10.2019

Reif wofür? Wann ein Digital CheckUp für Unternehmen Sinn macht

Ist Ihre Organisation reif für die Digitalisierung? Bereit für den Change? Digital CheckUps  können helfen, den  derzeitigen Entwicklungsstand des Unternehmens herauszufinden. Oder tragen sie noch mehr zur allgemeinen Verunsicherung bei?

Die Story ist bekannt: Digitalisierung ändert alles, die Welle der Disruptionen umfasst alle Bereiche. Deutsche Unternehmen hinken hinterher und sind nur unzureichend auf den digitalen Wandel vorbereitet. Verzweifelt suchen HR-Manager nach Ansatzpunkten und „Starting Points“, um ein Konzept für die Digitalisierung des eigenen Unternehmens zu finden. Unterstützt und angetrieben werden sie zumeist von Beratungsunternehmen, die ihnen einen Selbsttest für das Unternehmen anbieten – kostenlos als Akquise-Instrument oder kostenpflichtig als Analysetool. Als Wachmacher und Diskussionsgrundlage können diese Erhebungen des digitalen „Reifegrads“ nicht schaden. Überbewerten sollten Sie diese Instrumente aber auch nicht.

Bereits der Begriff der „digitalen Reife“ impliziert eine genaue Vorstellung, wie ein Unternehmen im digitalen Zeitalter zu sein und auszusehen habe. Ein Test zur digitalen Reife des MIT (Massachusetts Institute of Technology) zum Beispiel gibt vier Stufen zur Selbstbewertung vor: „Digital Beginner“, „Digital Conservative“, „Digital Fashionist“ und „Digital Digerati“ (Wortschöpfung aus „Digital“ und „Literati“, damit soll die digitale Elite gemeint sein). Dabei ist die Festlegung einer digitalen Reife durchaus fragwürdig. Wer bewertet, was die Reife einer Organisation ausmacht?

Reifegrad einer Organisation ist relativ

Man sollte nicht vergessen: Digitalisierung ist eine wichtige und erfolgskritische, aber beileibe nicht die einzige Dimension der Unternehmensentwicklung. Viele Unternehmen sind erkennbar schwach und rückständig in der Digitalisierung ihrer Prozesse, verfügen aber gerade deshalb über viel Vertrauen ihrer Kunden und Partner. Ihr Geschäftsmodell setzt zum Beispiel auf Vertrauen durch Tradition, lokale Nähe, Datenschutz, individuelle Bearbeitung einzelner Prozessschritte und eingeschränkte Verfügbarkeit von Services. Das muss nicht schlecht sein. Genau wie wir momentan die Nützlichkeit und Wichtigkeit der Handschrift (zum Beispiel für das Lernen) neu wertschätzen, werden auch andere analoge Verfahren und Techniken in Kürze wiederentdeckt werden. Ein Beispiel: In Deutschland wächst der Marktanteil von E-Books nicht mehr, er ist eher rückläufig. Das gute alte gedruckte Buch ist längst noch nicht verschwunden und hat für viele Käufer einen Wert. Also: Wer seinen digitalen Reifegrad testet, sollte sich gut überlegen, ob sein Ziel der Klassenaufstieg in die digitale Elite ist. Ist das nicht der Fall, sollte neben der Frage „Was müssen wir tun?“ eine weitere nicht vergessen werden: Was müssen wir aufgeben? (Gewohnheiten, Routinen, Gewissheiten…) Und: Wie sehr schmerzt es uns, das zu tun?

Digitale Checkups dürfen nicht das Denken abnehmen

Digital Checkups erleichtern das Denken und helfen, mehrere Ebenen eines Transformationsprozesses abzudecken. Allerdings suggerieren sie leicht Vollständigkeit: „Die Autoren werden schon wissen, was wichtig ist.“ In Wirklichkeit ist der digitale Wandel so umfassend und wirkt sich so individuell auf ein Unternehmen aus, dass es weder Standardlösungen noch Standardbewertungen geben kann. Blinde Flecken sind vorprogrammiert. Beratern, die behaupten, die Auswirkungen des digitalen Wandels in Gänze bemessen und prognostizieren zu können, sollte man mit viel Skepsis begegnen. So hilfreich der Experten-Input, der ungetrübte Blick von außen und die Motivation durch Nicht-Beteiligte auch ist: Manchmal ist es sinnvoller, mit eigenen Fragestellungen, eigenen Kategorien und eigenen Maßstäben eine Selbstbewertung der digitalen Fitness vorzunehmen als auf Standardfragebögen zurückzugreifen. Die Entwicklung eines eigenen Selbsttests nimmt zwar viel Zeit in Anspruch. Aber sie ist bereits ein wichtiger Schritt in Richtung Zukunft.

Betroffene nicht nur zu Umfrage-Beteiligten machen

Jahrzehntelang war es der Leitspruch der HR- und Changemanager, dass sie Betroffene zu Beteiligten machen wollen. Jetzt sieht man oft, wie Mitarbeiter eines Unternehmens beim digitalen Checkup zum Gegenstand der Bewertung werden, ohne selbst bei Entwicklung der Fragen und Definition des Erkenntnisinteresses beteiligt zu sein. Jede Befragung ist eine Intervention, die immer die Gefahr für unerwünschte Nebenwirkungen mit sich bringt: Irritationen, Abwehrverhalten, Frustration. Dem kann man vorbeugen, indem die Umfrage selbst zum Thema wird und möglichst viele Freiwillige an der Erhebung mitwirken können. Das macht Arbeit und zwingt viele Berater, sich von bereits ausformulierten Fragebögen zu verabschieden. Auch das beliebte Benchmarking mit anderen Unternehmen, Branchen und Märkten wird schwerer. Allerdings können Benchmarks zumeist nur Auskunft über die Vergangenheit geben und wenig über die Zukunft sagen. Deshalb sollte der Abschied leicht fallen, wenn auf der Habenseite die Entdeckung der Selbstdiagnosefähigkeiten einer Organisation verbucht werden kann.

Digital Check-Ups im Netz:

Mittelstand im Wandel - Wie ein Unternehmen seinen digitalen Reifegrad ermitteln kann

Leitfaden (PDF) der Plattform „Mittelstand digital“, einer Förderinitiative des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie.

Digital Business Studie 2018 von MIT Sloan Management Review und Deloitte

Die vierte Ausgabe der jährlich veröffentlichten Digital Business Studie von MIT Sloan Management Review und Deloitte Insights basiert auf einer weltweiten Umfrage unter mehr als 4.300 Managern, Führungskräften und Analysten sowie 17 Interviews mit Führungskräften und Vordenkern. Die diesjährige Studie belegt, dass sich das digitale und das traditionelle Geschäftsumfeld grundlegend voneinander unterscheiden.

New Work, VUCA