Anne M. Schueller ● 25.9.2019

Der Mensch bleibt Mensch - auch im digitalen Zeitalter

Die Zukunft wird digitaler. Zugleich muss sie aber auch menschlicher werden. Denn je größer der Digitalisierungsgrad, desto mehr Aufmerksamkeit braucht der Mensch. Keine noch so brillante Technologie kann die Kraft guter persönlicher Beziehungen ersetzen.

Inspiration entsteht durch unkomplizierte Austauschmöglichkeiten. Jede Idee wird besser und jeder Arbeitsschritt klüger, wenn man seine Gedankenrohlinge mit anderen teilt. Ein virtueller Beziehungsaufbau ist besser als nichts, doch Ferne sorgt für Distanz. Studien der Boston University haben darüber hinaus gezeigt, dass körperlich anwesende Personen tendenziell positiver beurteilt werden als virtuelle Präsenzen. Auch Vertrauen, der Komplexitätsreduzierer par excellence, entsteht durch physische Nähe. Erst, nachdem man sich leiblich nahe war, sich im wahrsten Sinne des Wortes beschnuppert und begriffen hat, kann man auch auf virtuellen Zuruf hin gut zusammenarbeiten. Wen man hingegen nicht persönlich kennt, dem vertraut man eher nicht. Und wem man nicht vertraut, mit dem macht man auch keine Geschäfte.

Hemmschwellen sinken in der Anonymität

Beziehungsdichte ist überaus wichtig, weil Menschen am besten zusammenwirken, wenn sie sich sehen. Warum das so ist? Worte können lügen. In Gestik und Mimik zeigt sich die wahre Gesinnung. Dies erzeugt in uns Resonanz. Ein gutes Intuitionsradar kann das spüren und decodiert friedliche Absichten genauso wie Ruchlosigkeit. Körpersprachliche Signale können nur bei physischer Anwesenheit wirklich gut entschlüsselt werden, weil dann alle Sinne beteiligt sind. Auch Empathie funktioniert am besten bei räumlicher Nähe. Bereits bei einem Abstand von mehr als zwei Metern lässt sie nach, wie Untersuchungen zeigen.

Ethik, Werte, Moral: Die Technologie per se kennt all das nicht. Aber sie kann und muss das von uns lernen.

Leider übernimmt sie sowohl das Gute als auch das Böse in uns. Doch je mehr Fakes im Web ihr Unwesen treiben, desto wichtiger wird Face-to-Face. Hemmschwellen sinken in der Anonymität.  Augenkontakt hingegen verändert  das Verhalten der Menschen zum Guten.

Beziehungsqualität benötigt räumliche Nähe

Die maßgeblichen Protagonisten der Internet-Elite sind sich dieses Umstandes sehr wohl bewusst. Wie kaum eine andere Spezies pflegen sie ihre Kontakte auch im wahren Leben. Sie alle wissen: Digitales Netzwerken alleine reicht eben nicht. Auf der weltweiten Developer Konferenz von Apple (WWDC) kommen jährlich weit mehr als 5000 Digitalexperten zusammen, um über neue Entwicklungen leibhaftig zu diskutieren. Ähnliches passiert auf Googles jährlicher I/O Konferenz.

Auch auf klassischen Kongressen und Branchenmessen stellt man fest, dass diese nicht in erster Linie der fachlichen Arbeit, sondern vor allem dem Netzwerken dienen. Selbst am digitalsten aller Orte, im Silicon Valley, steht Physisches sehr hoch im Kurs. Christoph Keese, der für seine Buchrecherchen im Mekka der Internetwelt gelebt und nach Erfolgsmustern gesucht hat, fand es dort gar nicht so digital: „Alle Firmen, die ich besuche, legen Wert auf Dichte. Physische Nähe, glauben sie, ist so wichtig wie die Abwesenheit allzu strenger Regeln. Räumliche Distanz behindert Kreativität, ebenso wie steifer gesellschaftlicher Umgang oder soziale Konvention. Vorschriften töten Ideen. Menschen werden kreativ, wenn sie beruflich so arbeiten dürfen, wie sie privat leben: eng verwoben, in freundschaftlichem Abstand, im ständigen Dialog, im freien Spiel der Ideen, ohne Angst vor Bestrafung durch eine höhere Distanz.“

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Was Kreativität braucht, um zu gedeihen

Kreativität, die Schlüsselressource der Zukunft, kann nur in Freiräumen entstehen. Sie ist wie eine launige Diva, die die richtigen Umstände braucht. Heiterkeit, Muße und Stress-Abstinenz gehören dazu. Wissensarbeiter benötigen Führungskräfte, die ihre Leute nicht beherrschen wollen, sondern optimale Rahmenbedingungen schaffen, damit sich diese voll entfalten können.

Arbeit muss Spaß machen, um gut zu werden.

Aus diesem Grund wird in Internetfirmen auch so viel Wert auf ein Wohlfühlklima gelegt. Alles hockt nah beieinander. Und jeder redet hierarchiefrei mit jedem. Nähe sorgt für Verbundenheit. Wer oft miteinander zu tun hat, sollte also nicht nur im gleichen Gebäude, sondern möglichst auch im gleichen Stockwerk arbeiten. Wir suchen unsere Mitmenschen am ehesten auf gleicher Ebene auf. Dies ist ein Relikt aus unserer Ära als Savannenmensch. Wir brauchen Raum um uns herum, helles warmes Licht, sinnvolle Laufwege, Kommunikationsinseln, runde Versammlungseinheiten, Rückzugs- und Erholungsorte, Kuschelecken – und Zeit für gemeinsame Plauschpausen. Kreativität entsteht ja nicht auf Kommando, wenn man am Schreibtisch sitzt, sondern immer dann, wenn unser Denkapparat sich entspannt und Ideenfunken mit anderen teilt.

Kollektive Intelligenz sorgt für stattlichen Vorsprung

Der beste kreative Output kommt nicht von Eigenbrödlern im Elfenbeinturm, sondern im realen Getümmel umherschwirrender Geistesblitze an inspirierenden Orten, die Vielfalt gestatten. Zwar ist die Intelligenz Einzelner von Bedeutung, wenn es um Ergebnisse geht, die kollektive Intelligenz, auch „Weisheit der Vielen“ genannt, spielt jedoch eine noch viel größere Rolle. Wenn genügend kluge Köpfe zusammenkommen, lässt sich jedes Problem lösen. Gemeinsam gelingt es am besten, Ideen zu entwickeln, die zuvor noch niemand hatte und auf die man allein nicht gekommen wäre.

Inhomogene Gruppen, in denen erstens die unterschiedlichsten Expertisen und Denkweisen zusammenkommen sowie zweitens mindestens zwei Frauen mitarbeiten und drittens Hierarchien sowie Selbstdarsteller keinen Zutritt haben, bringen übrigens die besten Resultate hervor. Inzwischen ist sogar erwiesen, wie Robotikprofessor Ken Goldberg verdeutlicht, dass eine Gruppe von lernenden Maschinen bessere Entscheidungen trifft als eine Maschine allein. Geht es um Andersdenken, um unkonventionelle Lösungen sowie um kleine und große Innovationen, sollten die Arbeitsorte zudem so informell wie möglich gestaltet sein. Stimmen die Rahmenbedingungen, dann steigt nicht nur die Aussicht auf eindrucksvolle Erfolge. Es steigt auch die Chance auf den Serendipity-Effekt. Das ist das Stolpern über glückliche Zufälle, was durch die „Weisheit der Vielen“ begünstigt wird.

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