Nicole Thurn ● 28.3.2019

Wenn alle entscheiden: Konsens, Konsent oder Konsensieren im Unternehmen?

Unternehmensdemokratie in Zeiten von New Work: Es gibt verschiedene Wege, um zu einer gemeinschaftlichen Entscheidung im Team zu gelangen. Klar ist: ohne Struktur und klare Abläufe geht es nicht.

Nicht erst seit der New Work Trendwelle  experimentieren Unternehmen mit neuen Organisationsformen. In Gremien entscheiden Mitarbeiter über Strategien, HR-Themen und Produktlaunches. Es gibt verschiedene Modelle, wie Gruppen zu einer gemeinsamen „basisdemokratischen“ Entscheidung gelangen. Konsens, Konsent, Konsensieren: diese Begriffe tauchen immer wieder auf und stiften Verwirrung. Was war nochmal der Unterschied?

Die Autorität entscheidet

Das kennen wir alle: eine Person hat eine Entscheidungsbefugnis aufgrund ihrer Autorität, ihrer sozialen Stellung, ihrer Position. Führungskräfte entscheiden für ihr Team.

Vorteil: Da die Entscheidung von einer Person ausgeht, wird sie in der Regel rasch getroffen.

Nachteil: Das Wissen und die Erfahrungswerte der Gruppe fließen nur soweit ein, wie der Entscheider es zulässt – oder gar nicht. Das kann die Qualität der Entscheidung natürlich beeinflussen. Oft wissen die Mitarbeiter an der Basis über bestimmte Sachverhalte einfach besser Bescheid als die Führungskraft. Entscheidet die Führungskraft entgegen der Meinungen ihrer Mitarbeiter, kann das zu deren Widerstand führen – und letztlich zu weniger Produktivität bis hin zur Sabotage.

Agile Teams sind "klassischen" Teams nicht nur in der Entscheidungsfindung einen Schritt voraus:

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Konsens

Wer ist dafür? Das Ziel ist die gemeinsame Lösung in der Gruppe. Konsens bedeutet, dass die – relative oder absolute – Mehrheit der Mitglieder eine Entscheidung mitträgt. Konsens kennen wir aus demokratischen Entscheidungen innerhalb der Politik. Er bedeutet: wir diskutieren so lange, bis alle dafür sind – oder zumindest niemand mehr offensichtlich dagegen ist. Ist ein Mitglied dagegen, kann es seinen Einwand vorbringen, der dann protokolliert wird. Es kann auch ein formales Veto einlegen, dann wird der Entscheidungsprozess unterbrochen und man sucht nach einem Kompromiss oder schafft es, die Person umzustimmen. Dass eine Entscheidung getroffen wird, bedeutet somit noch nicht, dass alle diese Entscheidung gut finden – es kann durchaus Personen geben, die ambivalent eingestellt oder sogar im Widerstand sind, die Gruppe aus bestimmten Gründen aber nicht blockieren wollen. In der Regel kann man sich bei der Abstimmung auch seiner Stimme enthalten.

Vorteil: Alle werden miteinbezogen und angehört. Im Fokus steht eine gemeinsame Lösung.

Nachteil: Die Lösung ist häufig der kleinste gemeinsame Nenner, den alle mehr oder minder akzeptieren. Das kann die Qualität der Lösung beeinträchtigen. Sind verschiedene Machtpositionen in der Gruppe vertreten oder ist die Gruppe in verschieden starke Untergruppen unterteilt, können so Machtinteressen verfolgt werden. Das Konsensprinzip benötigt zudem Ausdauer. Wichtig ist eine straffe Agenda mit konkreten Fragen und einem konsequenten Moderator, sonst droht die Diskussion auszuufern. Kritische Stimmen und Vetogeber sind möglicherweise nicht gern gesehen, da sie den Entscheidungsprozess verzögern oder blockieren. Und: der Widerstand gegen einen Vorschlag ist nicht klar ersichtlich. Gibt es zum Beispiel von 15 Teilnehmern 6 Ja-Stimmen, 3 Nein-Stimmen und 6 enthaltene Stimmen, kann der Vorschlag wohl kaum eine befriedigende Lösung für alle darstellen, denn: 9 Personen haben kein klares Ja gegeben.

Konsent

Das Konsentprinzip stammt aus dem demokratischen Organisationsmodell der Soziokratie. In der Soziokratie entscheiden Mitarbeiterkreise über verschiedene Themen.

Der Konsent regiert die Beschlussfassung und bedeutet: Keiner hat einen schwerwiegenden Einwand zu einem Vorschlag. Der Vorschlag ist es also wert, ausprobiert zu werden.

Diese Haltung bedeutet: Man trifft gemeinsam eine vorläufige Entscheidung, mit der alle können. Wenn die Entscheidung sich in der Praxis nicht bewährt, kann jemand einen schwerwiegenden Einwand liefern und so seinen Konsent wieder zurückzuziehen. Dann wird das Thema wieder im Kreis aufgerollt und neu entschieden. Der Einwand eines einfachen Mitarbeiters zählt ebenso wie jener der Führungskraft.

Ein Unternehmen, das auf den Konsent setzt, ist das Hamburger Getränkekollektiv Premium Cola. Hier werden Vorschläge über das Intranet an alle Mitarbeiter, Lieferanten und Vertriebler und sogar an Kunden weitergegeben und innerhalb einer bestimmten Frist zur Diskussion gestellt. Wer einen schwerwiegenden Einwand hat, kann ihn über das Intranet artikulieren und den Vorschlag adaptieren oder einen neuen Vorschlag einbringen. Der Vorteil: Die Artikulation von Gegenargumenten und alternativen Vorschlägen wird gefördert. Es muss aber auch argumentiert werden, warum man anderer Meinung ist. Der Einwand dient auch dazu, den bisherigen Vorschlag zu verbessern. Die Argumente dazu können also in einer besseren Lösung als nur einem Kompromiss münden.

Vorteil: Das Argument zählt, nicht die Mehrheit. Auch Randgruppen oder Teilnehmer mit wenig Macht können sich gleichwertig einbringen. Jeder darf Bedenken bzw. Gegenargumente äußern. Gibt es keine, kann der Lösungsvorschlag rasch umgesetzt werden. Im Gegensatz zu ausufernden Konsens-Diskussionen spart man so mitunter Zeit.

Nachteil: Der Konsent verlangt Argumente. Wer also einen Einwand hat, muss ihn argumentieren und gegebenenfalls auch eine neue Lösung anbieten. Das bedeutet Aufwand für die jeweilige Person. Das kann abschreckend wirken und dazu führen, dass man den Einwand nicht vorbringt.

Systemisches Konsensieren

In der Gruppe werden möglichst viele Vorschläge erarbeitet. Es können 10, 20 oder je nach Gruppengröße sogar hunderte sein. Diese Herangehensweise unterscheidet das Systemische Konsensieren von anderen Entscheidungsprozessen, die zwei, drei oder maximal eine Handvoll Vorschläge einbringen. Anschließend wird zu jedem einzelnen Vorschlag der Widerstand gemessen.  Dies kann man durch Handbewegungen festlegen (z.B. Aufzeigen=Ja, mit Händen wackeln=leichter Widerstand, Hände verschränken=Nein)  oder durch Karten mit Zahlen von von 0 bis 10. Die Kartenvariante erscheint mir als besonders sinnvoll, da die Teilnehmer intuitiv, aber auch differenzierter ihren Widerstand zeigen. Die Karten können gleichzeitig in die Höhe gehoben werden, um den Widerstand zu messen oder sie werden anonym abgegeben. Die Zahl 0 bedeutet gar kein Widerstand, 10 bedeutet, man ist voll und ganz gegen den Vorschlag. Die Summe der Punkte aller Teilnehmer ergibt pro Vorschlag den Widerstand der Gruppe. Der Vorschlag mit der geringsten Summe „gewinnt“, denn hier hat die Gruppe am wenigsten Widerstand gezeigt.

Dieser Ansatz reklamiert für sich, ein Entscheidungsinstrument, aber kein Machtinstrument zu sein. Es setzen sich nur Vorschläge durch, die auf möglichst wenig Widerstand stoßen. Laut dem Institut für Systemisches Konsensieren in Graz sollte auf jeden Fall vor der Abstimmung auch eine Passivlösung kommuniziert werden: Sie tritt ein, wenn die Gruppe sich auf keinen Vorschlag einigt. Etwa: „Es bleibt alles wie bisher.“ Oder „Der CEO entscheidet.“

Vorteil: Da viele Vorschläge der Teilnehmer eingebracht werden können, fördert das Querdenken und auch schräge, innovative Lösungsvorschläge, an die man im ersten Moment vielleicht nicht denkt. Der Vorschlag mit dem geringsten Gruppenwiderstand erzeugt am wenigsten Widerstand, Unzufriedenheit, am wenigsten Konfliktpozential und kommt dem Konsens am nächsten. Die intrinsische Motivation, den Vorschlag umzusetzen, ist am höchsten. Egoistische oder machtsichernde Vorschläge stoßen gemeinhin auf eher viel latenten Widerstand, können sich beim Systemischen Konsensieren also nicht durchsetzen. Das Gemeinwohl steht im Vordergrund. Spannend ist: strategisches Konsensieren, nämlich den eigenen Vorschlag mit null Widerstand zu bewerten und alle anderen mit hohem Widerstand, führt häufig zu einem unerwünschten Ergebnis.

Nachteil: Bei heiklen, emotionalen Themen kann es sozial problematisch sein, den eigenen Widerstand in der Gruppe zu äußern. Man wird geneigt sein, ihn herunterzuspielen bzw. ihn nicht ehrlich auszudrücken. Dann macht eine anonyme Bewertung der Vorschläge eventuell mehr Sinn.

Fazit

Es gibt kein Rezept für den „besten Entscheidungsprozess“. Je nach Entscheidungsthema und -level machen unter Umständen unterschiedliche Entscheidungsmodelle Sinn. Für kurzfristige Entscheidungen macht eine einfacher Konsent-Entscheid mehr Sinn, will man den Widerstand gegen Veränderung sichtbar machen, ist man mit Systemischem Konsensieren jedenfalls besser bedient. Und bei Detail-Entscheidungen reicht vermutlich häufig die Zustimmung einer Mehrheit im Team. Doch auch wie man künftig im Team oder im Unternehmen Entscheidungen trifft, muss erst einmal entschieden werden. Ein spannender Prozess.

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