Nicole Thurn ● 13.11.2019
Hilfe, sind jetzt alle agil geworden?
Die Crux mit dem A-Wort: Agilität ist aus dem Unternehmensjargon heutzutage nicht mehr wegzudenken. Doch Vorsicht vor falschen Versprechungen. Wir werfen einen kritischen Blick auf das Trend-Wort.
Und schon wieder ist es passiert. „Wir sind jetzt auch agil“, sagt die HR-Chefin mit leuchtenden Augen. „Das ist ja toll“, antworte ich. Was ich nicht sage, ist: Das ist toll, aber du bist die vierte diese Woche. Ich kann es nicht mehr hören.
In diversen Unternehmen scheint der Agilitätswahn ausgebrochen.
Die agile Generation hält agile Meetings in agilen Kontexten mit Heerscharen von agilen Coaches ab, bevor sie ins agile Wochenende flüchtet. Was umgangssprachlich das Wort „geil“ ist, ist im Business-Kontext „agil“.
Und ja, das ist auch nachvollziehbar, verspricht agiles (Projekt-)Management mehr Effizienz in den Arbeitsläufen, raschere Projektabwicklung durch iterative Testschleifen, bessere Reaktionsfähigkeit auf neue Vorkommnisse auf den Märkten und interdisziplinäres Arbeiten nah an den Kundenbedürfnissen. Unterm Strich schwingt allerdings das gar nicht so agile Heilsversprechen für die CEOs dieser Welt mit: mehr Moneten, weniger Mitarbeiter. „Agilität in letzter Konsequenz zu Ende gedacht, ist nichts anderes als turbokapitalistisches Gedankengut“, sagt Thomas Würzburger, Trainer, Wirtschaftscoach und Autor des Buchs „Die Agilitätsfalle“ in einem Interview mit der Wirtschaftswoche.
Suggeriert wird: Wer nicht agil ist, gehört gefühlt auf den Schutthaufen der Business-Geschichte. Ein agiler Gruppenzwang sozusagen. Kürzlich hatte ich den Fall der „agilen Collaboration“, als sich eine Agentur und ihr Auftraggeber drei Mal die Woche zum Brainstorming getroffen haben – sicherlich ein Fortschritt zum klassischen Briefing aber: noch lange nicht agil.
Zauberwort agil? Ausnahmslose Fehlverwendung
„Ich fürchte, inzwischen ist ausnahmslos jede Verwendung des Begriffs ,agil‘ eine Fehlverwendung. Es sei denn, man ergänzt ihn durch den Zusatz ,entsprechend dem Agilen Manifest‘“, schreibt mir der „Leadership-Philosoph und Management-Exorzist“ Niels Pflaeging auf Twitter. Auf dem sozialen Netzwerk habe ich nämlich auf die Schnelle etwas „agile“ Recherche betrieben. Ach stimmt ja gar nicht, es war nur effizient.
Denn immer wieder wird „agil“ gesagt und doch nur „effizient, schneller, besser“ gemeint.
Dabei ist es viel mehr, wenn man sich das „Agile Manifest“ aus dem Jahr 2001 zu Gemüte führt. 17 Software-Entwickler hatten sich zusammengetan, um effektiver zu arbeiten, nachdem Projekte bei ihren Auftraggebern zwei bis drei Jahre im Rückstand waren, mit manchmal Milliarden Dollar Verlusten (wie der inzwischen verstorbene Manifest-Co-Autor Mike Beedle in diesem Podcast-Interview erzählte). Arbeit in intensiver Einbindung mit den Kunden, ohne aufwändige Dokumentation und in kurzen Abstimmungs- und Adaptionsschleifen sollte Abhilfe schaffen. Scrum ist essentieller Bestandteil des agilen Arbeitens, wie auch Design Thinking und Prototyping und Kanban. Viel wesentlicher als die Tools sind allerdings die Werte des Agilen Manifests:
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Individuen und Interaktionen zählen mehr als Prozesse und Werkzeuge
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Funktionierende Software zählt mehr als umfassende Dokumentation
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Zusammenarbeit mit dem Kunden zählt mehr als Vertragsverhandlung
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Reagieren auf Veränderung zählt mehr als das Befolgen eines Plans
Agiles Arbeiten hat – konsequent und im Sinne des Manifests angewendet – diverse Vorteile. Doch Agilität allein ist noch keine Auszeichnung.
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Es gibt nämlich zahlreiche Gefahren und Fallstricke beim agilen Arbeiten, wie Hans-Joachim Gergs, Organisationsentwickler bei Audi, im Interview mit der österreichischen Tageszeitung „Der Standard“ sagt – nämlich dann, wenn Prozesse und Methoden doch über den Individuen und Interaktionen stehen: „Übermäßigen Leistungsdruck sowie Führungskräfte, die Agilität mit schnellerem Arbeiten, Leistungsverdichtung und größerer Produktivität verwechseln. Druck als beherrschendes Element des Betriebsklimas blockiert. Denn für die Agilität ist in erster Linie nicht die Effizienz des Tuns maßgeblich, sondern dessen Effektivität. Agilität, richtig verstanden, heißt zuerst ,try something new‘ und dann ,try harder.“ Es ist wichtiger, die richtigen, wirksamen Dinge zu tun (effektiv), als die Dinge kosten-nutzenmäßig richtig (effizient). Mitarbeiter berichten zudem von Überlastung und von Burnout, weil sie plötzlich großem Veränderungsdruck ausgesetzt sind, neue Rollen annehmen und mehr Entscheidungsmacht übernehmen sollen, aber die entsprechenden Fähigkeiten nicht haben. Viel eher als methodische Skills bräuchten sie eine stabile Persönlichkeit und Anpassungsfähigkeit, wie Thomas Würzburger in „Die Agilitätsfalle“ schreibt. Und: das Ganze benötigt Zeit.
Das agile Mindset der Mitarbeiter muss erst reifen, wenn sie nach und nach ihre Fähigkeiten erweitern.
Überfordernde Hauruckaktionen sind kontraproduktiv.
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Dazu mein Aufruf: sagt nicht agil, wenn ihr effizient meint. Und schaut nicht auf die Agilität, sondern darauf, was sie mit den Leuten macht. Ich halte es mit Thomas Würzburger, wenn er schreibt, es wäre an der Zeit, dass die Manager und Experten erkennen, „dass der Mensch nicht ,homo oeconomicus‘, sondern auch in erster Linie ein Konstrukt aus Stärken und Schwächen, Gefühlen und Bedürfnissen ist. Wie sich diese Tatsache mit der auf Effizienz getrimmten, kapitalorientierten Denke der Agility-Bewegung vereinbaren lässt, ist vielleicht für manche Überflieger und ,Rulebreaker‘ klar, für mich ergeben sich da aber noch ein paar große Fragezeichen.“