E-Learning Magazin | Lernen neu denken

„Unternehmen brauchen Gestalter des eigenen Lernens!“

Geschrieben von Nicole Thurn | 25.6.2020

Das Lernen der Zukunft setzt beim einzelnen Mitarbeiter an – und bei einer Lernkultur, die Fragen und Nichtwissen erlaubt, sagt Corporate-Learning-Experte Thomas Tillmann. Wir haben mit ihm über Trends und Hürden auf dem Weg zur lernenden Organisation gesprochen und die besten Tipps zum Download zusammengefasst.

Ein Wochenendseminar besuchen, sich vom Vortragenden berieseln lassen und montags ist wieder alles beim Alten? Das reicht in modernen Organisationen längst nicht mehr aus. In Zukunft sind die Mitarbeiter nicht mehr passive Wissenskonsumenten, sondern aktive Gestalter ihres Lernens, sagt Thomas Tillmann. Der Experte für Corporate Learning berät Unternehmen bei der Umsetzung von dynamischen und agilen Lernkulturen. Wir haben mit ihm über die Zukunft des Lernens gesprochen.

Herr Tillmann, wie verändert sich das Lernen in Organisationen derzeit durch die Digitalisierung?

Thomas Tillmann: Es gibt mehrere Quellen für die Veränderung des Lernens –  die Digitalisierung ist nur eine davon. Wir verstehen heute etwa die neurowissenschaftlichen Zusammenhänge des menschlichen Lernens besser, wodurch wir auch bessere Lernangebote gestalten können. Hinzu kommt der gestiegene Autonomieanspruch der Mitarbeiter: Nicht nur das eigenverantwortliche Arbeiten, auch das eigenverantwortliche Lernen wird wichtiger. Die Mitarbeiter sehen sich nicht mehr als Teil eines vorgegebenen Personalentwicklungsprozesses. Auch werden die Rollen und Aufgaben immer individueller auf die einzelnen Mitarbeiter zugeschnitten – hinter denselben Jobbezeichnungen stecken oft sehr unterschiedliche Aufgaben. Das hat sicher mit der Digitalisierung zu tun, ist aber auch losgelöst davon zu sehen.

Inwiefern?

Indikatoren, dass das klassische Modell des Lernens in Organisationen – mit Präsenzseminaren und formellen Lernangeboten – häufig dysfunktional ist, gab es auch schon lange vor der Digitalisierung. Hier wurde ein immenser Aufwand betrieben, der in keiner Relation zum Output steht. Das Tempo, das heute gefordert wird, können traditionelle Lernkonzepte nicht mehr abbilden – da können sie eine noch so fantastische Güte aufweisen.

Man hat bei Präsenzseminaren festgestellt, dass bis zu 90 Prozent der Lerninhalte nach wenigen Monaten wieder vergessen sind – warum sollen das digitale Formate verhindern?

Diesen Effekt zu den Präsenzseminaren hat Hermann Ebbinghaus bereits 1885 beschrieben. Die Vergessenskurve gilt aber vermutlich ebenso für einmalige digitale Lerninhalte. Der Vorteil der digitalen Formate ist allerdings: man kann nachgeordnet zum Lernprozess immer wieder kurze Impulse anbieten, um den gewonnenen Wissensstand aufrechtzuerhalten. Über Präsenzlernen lässt sich das organisatorisch kaum umsetzen. Aber wir müssen uns vom Konversionsmodell verabschieden: man kann nicht einfach Inhalte aus dem Präsenzlernen digital übersetzen. Beides hat originär Stärken und Schwächen, dementsprechend lassen sich Formate designen. Lernen hat viel mit Emotionalität und Beziehungen zu tun, alles Facetten, denen wir in der Regel zu wenig Raum geben – das ist eine Stärke von Präsenzveranstaltungen. Bewährt hat sich etwa das Konzept Flipped Classroom: Hier trennt man Wissenserwerb und Könnenserwerb. Wissen lässt sich digital über Videos und Materialien vorab gut vermitteln. Dann kann man die Zeit in der darauffolgenden Präsenzveranstaltung besser nutzen, um Dinge in der Auseinandersetzung und im Austausch mit anderen Teilnehmern gemeinsam auszuprobieren.

Sie sagen, Unternehmen sollten eine dynamische Lernumgebung schaffen. Was verstehen Sie darunter?

Lernen und Arbeiten verschränken sich in agilen Organisationen viel stärker, soweit, dass man oft gar nicht mehr genau ausmachen kann, was ist Lernen und was ist schon Arbeit. Lernen kann mit digitaler Hilfe viel stärker on Demand genutzt werden, wir können unproduktive Zeiten rascher überwinden. Bisher waren Lernen und Arbeit organisatorisch und räumlich stark getrennt. In einer dynamischen, agilen Arbeitswelt müssen die Lernangebote das Tempo der aktuellen Entwicklungen im Business abbilden. Hier gehört viel mehr dazu als nur formelles Lernen über Seminare, es geht um soziales Lernen, um Lernen durch Beziehungen und durch das Mitgestalten. Lernen wird in der Wissensgesellschaft also selbst zum Teil der Arbeit.

„Wir haben längst zu viele Lernangebote. Die Aufgabe von Unternehmen ist, Mitarbeiter in die Lage zu versetzen, selbst entscheiden zu können: Was will ich lernen und wie?“

Was sind denn passende digitale Formate? MOOCs waren ja lange in aller Munde…

Die Zeit der MOOCs ist im Wesentlichen vorbei. Aber digitale Technologien bieten auf verschiedene Weise die Möglichkeit, sehr punktgenau und passend zum raschen Tempo auf das zurückzugreifen, was wir gerade brauchen. Das können Soziale Medien sein, über die man Debatten verfolgt, das können Tutorials und Vorträge auf YouTube sein oder kostenpflichtige Lernangebote über Webinare und Online-Seminare wie bei der WEKA Learning Group. Entscheidend ist, dass die Mitarbeiter die Kompetenz erlangen, eigenverantwortlich ihr Lernen zu gestalten. Google fragt seine Bewerber im Vorstellungsgespräch: Are you a learning animal? Diese offene Haltung gegenüber dem Lernen ist wesentlich für die Zukunft. Die reine Konversion von Präsenzveranstaltungen in eLearning funktioniert allerdings nicht, das hat man die vergangenen zehn Jahre erfolglos versucht. Es reicht auch nicht, viele Lernangebote für die Mitarbeiter freizuschalten. Wir haben längst zu viele Lernangebote, allein über YouTube sind es Millionen Inhalte. Wir müssen lernen, sinnvoll damit umzugehen und das Passende für uns auszuwählen. Die Aufgabe von Unternehmen ist es also vor allem, Mitarbeiter in die Lage zu versetzen, selbst entscheiden zu können: was will ich lernen und wie?

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Was sind die Schwierigkeiten bei der Umstellung der Lernkultur im Unternehmen?

Früher hat die Personalabteilung Lernbedarfe für Mitarbeitergruppen formuliert, dann hat man die entsprechenden Trainer gesucht und später passende digitale Formate. Das mag vielleicht für manche Lernthemen funktionieren, für vieles aber nicht mehr. Die Zuständigkeiten, Rollen und Aufgaben der Mitarbeiter werden zunehmend fragmentiert, also kann man auch den Lernbedarf nicht mehr über eine zentrale Stelle abwickeln. Daher ist es so wichtig, dem Einzelnen die Verantwortung für das eigene Lernen klar zu machen – ein schwieriger Prozess auf beiden Seiten. Vielfach erfahre ich, dass Unternehmen sich sehr schwer tun, den Mitarbeitern Freiheiten zu gewähren, teilweise tun sich auch die Mitarbeiter dabei schwer, diese Freiheiten auch anzunehmen und Verantwortung zu übernehmen.

In einer dynamischen Umgebung ist es aber wesentlich, dass Mitarbeiter sich als aktive Gestalter nicht nur ihrer Arbeit, sondern auch ihres Lernens und ihrer Weiterentwicklung wahrnehmen.

Das ist sicher eine große Herausforderung für die nächsten Jahre.

Wie erhalten Mitarbeiter diese Selbstlernkompetenz?

Wenn ein Kind Fahrrad fahren lernen will, wird es funktionieren – auch mit den genervtesten Eltern auf der holprigsten Straße. Ist das Kind allerdings noch nicht soweit, geht es auch mit dem besten Fahrrad nicht. Menschen können mit unzureichenden Hilfsmitteln erstaunlich gut lernen, wenn sie wissen, wofür es gut ist. Ist die Relevanz zu Lernen nicht gegeben, kommt nicht viel dabei heraus. Eine falsch verstandene Didaktisierung sollte man eher zurückschrauben, man muss nicht alles als Kurs aufbereiten. Menschen lernen, wenn sie begeistert sind, wenn sie etwas umtreibt, und sie tun das auf vielfältige Weise: über die Begegnung und den Austausch mit anderen, mit Hilfe von Medien. Das tun sie auch im Privatbereich, wenn sie sich völlig selbstgesteuert in Hobbies reinfuchsen. Die Frage ist, wie können wir diesen Spirit auch beruflich finden? Je mehr ich für Mitarbeiter alles mundgerecht und perfekt aufbereite, desto mehr entlaste ich sie von ihrer Eigenverantwortung. Doch Lernen funktioniert tatsächlich nur, wenn es vom Lerner selbst ausgeht.

Das heißt, Unternehmen müssen zunehmend auf die Lerninteressen ihrer Mitarbeiter eingehen. Klingt nach einem Vorteil für die Mitarbeiter.

Ja natürlich, das ist eine Chance für die Mitarbeiter.

Sie sagen, das Corporate Learning gehört an die Unternehmensstrategie angebunden. Wie ist der Status quo in den Unternehmen bzw. welche Fehler werden hier gemacht?

Lernabteilungen hatten immer diesen Anspruch, strategisch mitzuwirken. Häufig haben Unternehmen einen riesen Bauchladen an Lernangeboten, es soll ja für jeden etwas dabei sein. Dabei wird allerdings der wahre Anspruch an das organisationale Lernen verwässert: nämlich dass es ein Vehikel sein soll, um die Unternehmensstrategie umzusetzen. Die wesentliche Frage ist doch: Wo wollen wir mit unserem Unternehmen hin und was leitet sich daraus ab? Auch zu gucken, was brauchen wir nicht mehr, ist wohltuend. Es geht nicht darum, den Mitarbeitern liebgewordene Angebote streitig zu machen, aber: Unternehmen sind keine Volkshochschulen. Unternehmen mit guter Lernkultur schaffen diese Anbindung an ihre Strategie gut.

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Wie können die Mitarbeiter einen positiven Zugang zum Lernen finden, wo doch viele Menschen auch negative Lernerfahrungen haben?

Das ist ein echtes Problem, allerdings müssen wir aufpassen, dass wir es uns mit dem Bashing gegen das Schulsystem nicht zu einfach machen. Besser wäre es, die Frage zu stellen: was tragen wir als Unternehmen dazu bei, dass unsere Mitarbeiter diese Passivität zum Lernen entwickelt haben. Wo setzen wir die falschen Signale? Das fängt schon bei der betrieblichen Ausbildung an. So verdient das duale System in Deutschland auch ist – es vermittelt jungen Menschen auch: hier ist schon alles vorbereitet und an alles gedacht, je geräuschloser du dich zum Gegenstand von Ausbildung machst, desto erfolgreicher bist du. Nach Ende der Ausbildung kommt man mit dieser Haltung aber nicht weiter.

Wie lässt sich eine dynamische Lernkultur etablieren – ohne dass sie die Mitarbeiter bei all den Transformationen und dem laufenden Tagesgeschäft weiter überfordert?

Die Überforderung ist teilweise der Fall. Aber auch hier müssen wir reflektieren: was ist überhaupt das Lernen? Das muss nicht abgehoben sein. Lernen kann über eLearning, Seminare und Videos stattfinden, aber in erster Linie geht es um Fragen des Alltags: uns ist ein Fehler unterlaufen, was lernen wir daraus? Wir reden nicht davon, dass jeder täglich zwei Stunden MOOCs absolvieren muss, sondern es geht um banale kleine Dinge: dass etwa die Unternehmenskultur es erlaubt, dass man sich bei offenen Fragen an Kollegen wenden kann. Zuzugeben, dass man etwas nicht weiß ist kulturell in vielen Unternehmen nicht möglich. Es geht darum, kleine Lernaktivitäten im Arbeitsalltag zu pflegen.

 

Dr. Thomas Tillmann  studierte Geisteswissenschaften, ehe er 2001 bei McKinsey & Company in die Unternehmensberatung einstieg und sich auf Klientenprojekte im Bereich Education/Learning/Personalentwicklung konzentrierte.

2006 gründete er die Beratung abc tillmann - consulting in education, die Unternehmen dabei unterstützt, lernende Organisationen zu werden, d.h. Lernen im Arbeitsalltag zu verankern.

Sein Wissen gibt er außerdem im Rahmen der ELUCYDATE Online Trainings, Kurstitel "Eigenverantwortlich lernen" weiter.