Was bedeutet Recruiting in der heutigen Zeit? Warum müssen Unternehmen bei der Suche nach passenden Bewerbern umdenken und selbst aktiv werden? Antworten auf diese und weitere Fragen rund um die proaktive Personalbeschaffung haben wir bei einem Experten zum Thema Recruiting 4.0 eingeholt.
Das Bewerberbecken scheint leergefischt, die Resonanz auf Stellenanzeigen tendiert gegen Null. Sie als Unternehmer und Personalverantwortlicher stehen vor so mancher Herausforderung wenn es darum geht, geeignete Kandidaten für Ihre offenen Stellen zu rekrutieren. Holm Schmidt, Recruiting-Experte, hat sich im Rahmen eines Interviews unseren Fragen rund um die aktuelle Arbeitsmarktsituation gestellt.
Herr Schmidt, warum klagen Ihrer Meinung nach derzeit so viele deutsche Unternehmen darüber, dass sie kein Personal finden?
Unternehmen wurden überrascht von der Kehrtwende im Markt und von der Vehemenz, mit der Kandidaten inzwischen im gesamten Bewerberprozess agieren und auftreten. Der Personalmangel kratzt an der wirtschaftlichen Substanz vieler Unternehmen. Laut aktueller Berechnungen von Korn & Ferry geht man von ca. 4,9 Millionen unbesetzter Stellen bis Ende des nächsten Jahrzehnts aus, die die deutsche Wirtschaft ca. 525 Milliarden Euro kosten werden. Das ist keine Kleinigkeit, sondern ein eklatantes Problem für die gesamte Gesellschaft. Der größte Engpass heute für wirtschaftliches Wachstum ist fehlendes Personal. Wenn bis vor 15 Jahren die Personalabteilungen die Bewerbungseingangsflut nur mit Waschkörben logistisch bewältigen konnten, so freuen sie sich heute schon, wenn auf eine Stellenanzeige überhaupt Bewerbungen eingehen – inzwischen natürlich elektronisch. Der Funktionsmechanismus Post & Pray („ich schalte eine Stellenanzeige und warte auf den Bewerbungseingang“) funktioniert heute schlichtweg nicht mehr.
Warum hat Post & Pray im Bewerbungsprozess ausgedient?
In Zeiten des klassischen Arbeitgebermarkts hat P&P funktioniert, weil aufgrund der Beschäftigungslage Bewerbende meist als Bittsteller betrachtet wurden. So war die Denke auf Unternehmensseite, die sich über Jahre manifestiert hat und bis heute in vielen Köpfen, sagen wir, latent vorhanden ist. Heute haben wir einen reinen Bewerbermarkt.
Wo liegen die Besonderheiten am heutigen Bewerbermarkt?
Die Rollenverhältnisse im Bewerbermarkt haben sich aufgrund verschiedener Faktoren grundlegend geändert: „Überalterung“ unserer Gesellschaft, fehlende Fachkräfte und ein anderes Selbstverständnis der Generationen Y und Z.
Sofern Unternehmen wirtschaftlich erfolgreich bleiben wollen, müssen sie sich mit ihrer neuen Rolle als Suchende abfinden.
Und sie müssen verstehen, dass eine Recruiting-Strategie als Teil des Employer Branding und damit der Unternehmensstrategie für ihr Wachstum notwendig ist. Leider haben bislang nicht alle Unternehmen in Deutschland eine Recruiting-Strategie implementiert. Was beinhaltet diese? Sie umfasst eine positive „Candidate Journey“ vom Erstkontakt bis zum Beschäftigungsbeginn, ein funktionierendes „Onboarding“, wirksame Personalentwicklungsprogramme, ein transparentes Bewerbermanagement und vor allem eine interne und externe Kommunikation auf Augenhöhe.
Woran fehlt es den Unternehmen Ihrer Ansicht nach noch?
Durch das mangelnde Verständnis für die neuen Rollenverhältnisse haben sich zwei Reaktionsmuster gezeigt: Erstens, Unternehmen meinen ihre Personalsuche erfolgreicher gestalten zu können, indem sie Stellenanzeigen optimieren, mit flapsigem Wording, grafischer Umgestaltung oder inhaltslosen Floskelwolken. Manche versuchen zweitens, Social Media Kanäle zu bespielen, leider mit altgedienten Inhalten. Nur weil jetzt eine Stellenanzeige in einem anderen Kanal auftaucht, werden nicht plötzlich Dutzende von Bewerbungen eingehen! Der Mechanismus P&P hat wie schon erwähnt ausgedient, egal auf welchen Kanälen.
Die beiden Reaktionsmuster belegen, dass viele noch nicht verstehen, was Social Media ist und wie man diese Kanäle im Recruiting nutzen kann. Social Media ist mehr als einfach nur ein neuer Kanal. Die Nutzer kommunizieren miteinander und Informationen werden mit Einzelnen oder Gruppen geteilt, kommentiert und diskutiert. Ein offener Austausch wird erwartet, auch von Unternehmen. Last not least, gibt es den grundsätzlichen Irrtum bei der Personalsuche: Mit P&P spreche ich nur die aktiv Jobsuchenden (25%) an, also die, die sich vielleicht Stellenanzeigen ansehen. Dabei entgeht mir aber die Mehrheit: 75% der Bewerbenden sind passive BewerberInnen, die ich beispielsweise mit Active Sourcing erreichen kann.
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Was resultiert daraus als Learning für Unternehmen im Mittelstand?
Recruiting an sich hat immer noch einen geringen Stellenwert in vielen Unternehmen. Gerade in mittelständischen und kleinen Unternehmen wird das ganze Thema Personalsuche häufig „nebenbei“ erledigt. Der Wandel in den Köpfen ist noch nicht vollzogen. Entscheider fragen sich oft, wie hoch die Recruiting-Kosten einer Stellenbesetzung sind und nicht, wie hoch die Kosten dafür sind, dass diese Stelle unbesetzt ist. Genau das ist die Wachstumsbremse schlechthin. Das Aufgabengebiet Recruiting gilt es neu zu gewichten und auszurichten. Allein schon aus Gründen des Selbstverständnisses der neuen Bewerbergeneration: Sie können momentan den für sie besten Arbeitgeber auswählen und sind alles andere als Bittsteller. Recruiting wird damit für Unternehmen zur einer Art Vertriebsaufgabe: Als Unternehmer muss ich mein Produkt, d. h. meine Arbeitgebermarke für den Kunden, also für die Bewerbenden, so attraktiv wie möglich machen, aktiv auf sie zugehen und mich auf sie einlassen.
Was muss passieren, damit Unternehmen wieder erfolgreich Leute rekrutieren?
Hier gibt es einige Punkte. Wie schon erwähnt, muss sich zunächst das Selbstbild innerhalb der Unternehmen ändern. Als Teil der Unternehmensstrategie muss Recruiting eine Schlüsselaufgabe zukommen, die wirtschaftliche Position des Unternehmens zu sichern. Weiterhin bedarf es einer menschenfreundlichen Kommunikation auf Augenhöhe nach innen und außen, die geprägt ist von glaubhafter Wertschätzung. Sie muss generationenübergreifend und positionsunabhängig geführt werden. Außerdem ist sie die Voraussetzung für ein erfolgreiches Active Sourcing, bei dem ich passive Bewerber identifiziere sowie persönlich und individuell anspreche. Größere Unternehmen nutzen Active Sourcing beispielsweise dazu, um mittel- bis langfristig einen Talent Pool aufzubauen. Recruiting muss Teil einer übergeordneten und langfristigen Employer-Branding-Strategie sein. Nur so können alle darin befindlichen einzelnen Touch Points wie Candidate Journey, Onboarding, Mitarbeiterkommunikation usw. wie aus einem Guss nach innen und außen wirken. Das schafft Vertrauen und Glaubwürdigkeit, die gerade den nachfolgenden Generationen bei der Auswahl ihres Arbeitgebers sehr wichtig sind!
Nutze ich als Unternehmen Social Media für mein Employer Branding, kann ich mit unterhaltsamem und/oder informativem Content auf Instagram, Youtube, Facebook & Co. punkten: je authentischer, desto besser! So schaffe ich erst Aufmerksamkeit, dann Bekanntheit als Arbeitgeber. Ideal, wenn ich im nächsten Schritt, die adressierte Zielgruppe auf meine Karriereseite lenke, um dort ihr Interesse an mir als Arbeitgeber zu konkretisieren.
Im zweiten Teil unseres Interviews stellen wir Strategien für KMU vor und sprechen über den Einsatz künstlicher Intelligenz im Recruiting-Prozess.