Lars-Peter Linke ● 4.8.2020

Lernmodell 70-20-10: Mythos oder Erfolgsrezept?

Modelle sind beliebt. Vor allem, wenn sie leichte Erklärungen bieten. Noch mehr, wenn sie Entscheidungshilfe liefern. So auch die 70-20-10-Regel, die beschreibt, dass Mitarbeiter für den Job am meisten bei der Arbeit und auf informelle Weise lernen. Doch wie viel Erfolgsrezept steckt wirklich hinter diesem Lern-Modell?

Kaum jemand weiß genau, wie diese 70-20-10-Regel, die seit gut 20 Jahren im Umlauf ist, entstanden ist. Wissenschaftliche Fundierung? Fehlanzeige. Und dennoch dient das Modell immer wieder dazu, ein neues Zeitalter des Corporate Learnings auszurufen.

Eingänge Formeln sind in der Personalentwicklung sehr beliebt. Sie halten sich lange und sind auch dann noch quicklebendig, wenn sie von empirischer Forschung entweder widerlegt werden oder zumindest ihre Selbstverständlichkeit in Zweifel gezogen wird. Diese Eigenschaften teilt Frederic Vesters Theorie der Lerntypen (Vester unterschied zwischen visuellen, auditiven, haptischen und intellektuellen Lerntypen), mit der berühmt-berüchtigten „7-38-55-Prozent-Regel“, die besagt, dass Worte nur zu sieben Prozent für den Gesamteindruck verantwortlich sind, den ein Mensch auf seinen Gesprächspartner macht. Das gilt auch für die 70-20-10-Regel, der zufolge 70 Prozent des Lernens der Mitarbeiter und Führungskräfte in der Alltagsarbeit beim Lösen schwieriger Probleme passiert. 20 Prozent des Lernens erfolgt im Austausch mit anderen (zum Beispiel mit dem Chef). Und nur zehn Prozent des Lernens geschieht im klassischen Lernkontext – in Seminaren und Trainings.

Die Formel 70-20-10 hat mehrere Ursprünge, die sich gar nicht mehr so genau zurückverfolgen lassen. Es ist schwer zu sagen, wer diese Formel „erfunden“ oder ihr ihre einprägsame Aussagekraft gegeben haben mag. Erheblichen Auftrieb hat sie 1996 durch das Buch „The Career Architect Development Planer“ von Morgan McCall, Robert Eichinger und Michael Lombardo erhalten. Die Karriere-Experten hatten erfolgreiche Führungskräfte nach ihren Lernstrategien gefragt.

Die Bedeutung der 70-20-10-Regel im 21. Jahrhundert

Ihre faszinierende Beliebtheit zieht die 70-20-10-Formel aus ihrer Bedeutung für zwei übergreifende Lerntrends, die das betriebliche Lernen seit dem Anfang des 21. Jahrhunderts bestimmen: die steigende Wertschätzung für informelles Lernen und das Aufkommen digitaler Lernbibliotheken.

Nicht zuletzt im Zuge der Strategien für lebensbegleitendes Lernen, die von der EU und der OECD entwickelt wurden, erfreut sich das informelle Lernen, also all das Lernen, das außerhalb von Seminar- und Klassenräumen stattfindet, sowohl größerer Wertschätzung als auch größerer Aufmerksamkeit. Besonders propagiert wurde die 70-20-10-Formel vor allem von Anbietern digitaler Lernbibliotheken, die gute Unterstützung für das selbstgesteuerte Lernen ohne Trainer, Lerner oder Coach bereitstellen: Lernvideos, Online-Materialien und vieles mehr.

Neuer Call-to-Action

Kaum eine Corporate Learning-Strategie scheint heute ohne Bezug auf 70-20-10 auszukommen. Oft wird 70-20-10 vor allem dann als Argument ins Feld geführt, wenn das Budget für Trainings und Seminare gekürzt wird: „Informelles Lernen ist eh viel wichtiger, die Wirkung von Trainings und Seminaren ist überschaubar“ lautet dann die Argumentationslinie. So haben viele Corporate Learning Manager ohne Gegenwehr den Abbau von Trainings- und Lernangeboten eingeleitet. Später stellen sie dann ernüchtert fest, dass informelles Lernen und „Lernen am Arbeitsplatz“ keine Selbstläufer sind. Im Gegenteil.

Informelles Lernen passiert nicht nebenbei und nicht automatisch.

Die Förderung des informellen Lernens ist kompliziert und aufwändig. Damit verliert die 70-20-10-Regel viel an Verheißung, Kraft und Optimismus. Oft dient sie nur als Vorwand für Budgetkürzungen. Dass diese Kürzungen scheinbar im Einklang mit der Formel stehen, lässt sich mit fünf Denkfehlern erklären, die sich hartnäckig in den Unternehmen halten:

Erster Denkfehler: Man kann klar zwischen drei Lernarten unterscheiden.

Das kann man nicht. In einem Training lernen die Teilnehmer zumeist anhand aller drei Lernformen: Sie arbeiten an Fällen aus der Praxis, sie tauschen sich aus – auch mit Vorgesetzten, sie erhalten Input vom Trainer. So gesehen kann die Faustregel 70-20-10 nicht nur für das Lernen insgesamt, sondern auch für jedes gute Training dienen: 70 Prozent Lernen an betrieblichen Herausforderungen, 20 Prozent Lernen von und mit anderen, 10 Prozent Lernen im formalen Setting.

bb6c349c75a38f97e752f179bb4e103ffd56cfd7Dies ist ein Auszug aus ELUCYDATE | Kompetenzentwicklung mit E-Learning Premium-Content für Unternehmen zum Thema "Eigenverantwortlich Lernen".

Zweiter Denkfehler: Lernen ist immer gut und immer gleich wertig.

Es stimmt, wir lernen viel durch Herausforderungen und praktische Erfahrungen, die wir im Arbeitsalltag sammeln. Aber nicht alles, was wir lernen, ist gleich wichtig. Wir lernen auch viel, was wir nicht unbedingt lernen müssen. Bestimmte Lerninhalte sollten höhere Priorität genießen, weil sie im Einklang mit der Unternehmensstrategie stehen. Das lässt sich mit informellem Lernen allein schwerlich planen und noch schwerer terminieren.

Dritter Denkfehler: Alle Menschen lernen gleich.

McCall, Eichinger und Lombardo hatten für ihr Buch „The Career Architect Development Planer” vornehmlich erfolgreiche und effektive Führungskräfte befragt. Es gibt aber auch Menschen, die hervorragende Arbeit in ihrem Job leisten, sich aber schwer tun, Neues zu lernen. Nicht jeder kann und möchte im gleichen Maße selbstgesteuert lernen.

Werfen Sie einen Blick in unsere digitalen Lerntrends 2022

Vierter Denkfehler: Zehn Prozent sind wenig.

Angenommen, dass wirklich nur zehn Prozent des Lernerfolgs einer Führungskraft auf Seminare und Trainings zurückgehen und der Rest durch Herausforderungen und Gespräche in der täglichen Arbeit erfolgt, entspräche das bei 230 Arbeitstagen pro Jahr einem Zeitbudget von 23 Tagen für formales Training. Zum Vergleich: Den Beschäftigten in Deutschland stehen durchschnittlich 2,3 Weiterbildungstage pro Jahr zur Verfügung.

Fünfter Denkfehler: In Seminaren wird nur gelernt.

Menschen lernen in Seminaren. Aber sie tun noch so viel mehr: Sie tauschen sich aus, sie kommen auf neue Ideen, sie lernen sich kennen, sie motivieren sich, sie legen Vorurteile ab, sie vernetzen sich, sie spannen mal aus, sie schöpfen Vertrauen, sie entwickeln Wertschätzung… Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Formales Training im klassischen Setting ist immer ein Ausdruck gelebter Lern- und Unternehmenskultur.

Fazit: (Auch) gemeinsames Lernen ist wichtig

Die 70-20-10 Formel steht wie kaum ein anderes Paradigma für die Individualisierung des Lernens. Sie hilft vielen Personalabteilungen, ihre Lernangebote zu überdenken und auszuweiten und die Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter in den Mittelpunkt zu stellen. Gleichzeitig steckt genau in dieser Individualisierung und Ausrichtung auf die Leistungsfähigkeit auch die Gefahr, dass Lernen seinen Stellenwert als prägender Faktor der Unternehmenskultur verliert:

Gerade im gemeinsamen Lernen werden Werte, Ziele und Besonderheiten eines Unternehmens sichtbar: sein Charakter, seine Tradition, seine Identität.

Genau diese Faktoren müssen Unternehmen, die ihr Wirtschaften auf Sinn und Purpose ausrichten wollen, stärker in den Fokus setzen. Gut möglich, dass die 70-20-10-Formel deshalb mehr und mehr an Strahlkraft verlieren wird. Um es mit Aristoteles zu formulieren: Das Ganze ist eben mehr als die Summe seiner Teile.

Vielmehr sollten alle nötigen Lernformate zur Verfügung gestellt werden, um eine offene und in den Arbeitsprozess integrierte Lernkultur zu ermöglichen. Die Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter steht dabei im Vordergrund, gefördert durch entsprechende Rahmenbedingungen.

Learning and Development