Nicole Thurn ● 11.9.2019
Kann künstliche Intelligenz bald unser Denken ersetzen?
Wir stehen vor der nächsten Evolutionsstufe des Bildungssektors. Kann KI künftig unser Denken ersetzen? Und wer ist der bessere Lehrer: Software oder doch der Mensch?
Sie kennen vermutlich den Film „Matrix“. Wenn ja, dann erinnern Sie sich bestimmt an die Szene, in der Neo über einen Gehirn-Upload per Diskette und VR-Stuhl in Sekunden Ju Jitsu und Kung Fu erlernt. Was wie Science Fiction klingt, könnte unsere Art von Bildung in gar nicht so ferner Zukunft sein. Die Methode Transcranial Direct Current Stimulation (tDCS) von HRL Laboratories in Kalifornien ermöglicht es offenbar, das Gehirn im niedrigen Frequenzbereich während des Schlafs so zu stimulieren, dass die Lernfähigkeit verbessert wird, wie ein Experiment aus dem Jahr 2016 zeigt. Man übertrug die Hirnaktivitätsmuster von sechs Berufspiloten über Elektroden mithilfe des tDCS in die Gehirne von Berufsanwärtern, die gerade am Flugsimulator geübt hatten. Das Fazit: Die Probanden verbesserten ihre Lernfähigkeiten und ihr Wissen im Flugsimulator signifikant. An der University Southern California gelang im Jahr 2017 ein weiteres aufsehenerregendes Experiment: 20 Epilepsie-Patienten wurde je ein Implantat ins Gehirn gesetzt. Sie mussten Lernaufgaben bewältigen, während das Implantat gezielt ihren Hippocampus elektrisch stimulierte. Das Ergebnis: Die Leistung ihres Kurzzeitgedächtnisses verbesserte sich im Schnitt um 15 Prozent, die des Arbeitsgedächtnisses um 25 Prozent.
Lehrer: Software oder Mensch?
Bis Menschen mit Chips oder Implantaten zum „Superhuman“ mutieren, wird noch etwas Zeit und Mühe in der Forschung vergehen. Derzeit treibt viele im Bildungswesen die pragmatischere Frage um:
Ist Lernsoftware besser als ein echter Lehrer?
Ein groß angelegter Test in China will das bestätigt haben. Im August 2018 nahmen tausende chinesische Schulkinder an einem Test teil. Die einen ließen sich im Laufe des Tests Rechenaufgaben von der Lernsoftware des Startups Squirrel AI erklären, die anderen von einem Lehrer. Das Fazit: Die Schüler, die mit der Software gearbeitet hatten, konnten sich um 5,1 Punkte verbessern – jene mit dem Lehrer nur um 0,4 Punkte.
Das Startup Squirrel AI aus Schanghai arbeitet mit Gesichtserkennung, erkennt Emotionen und Unter- wie Überforderung ihrer Schüler und liefert adaptives Lernen mit individuellen Lernplänen und intensiver Online-Betreuung. In China lernen zig Millionen Schüler und Studierende bereits mithilfe von Künstlicher Intelligenz in und abseits von Klassenräumen. Im Vorjahr hat das Land eine Milliarde US-Dollar für K.I. im Bildungssektor ausgegeben – und ist damit globaler Vorreiter.
Für deutsche Schüler wurde an der Technischen Universität Kaiserslautern bereits im Jahr 2014 Hypermind, ein intelligentes Physik-Schulbuch entwickelt: Textverständnis und mögliche Lerndefizite des Schülers werden per Eye-Tracking analysiert. Verschiedene Darstellungsformen und Wissensbausteine werden auf den Lernfortschritt der Schüler adaptiv abgestimmt.
Wie KI das Lernen im Job vereinfacht
Interaktives und adaptives Lernen hält auch in der beruflichen Weiterbildung in Deutschland zunehmend Einzug. Mithilfe von digitalen Lösungen für maßgeschneiderte Plattformen werden die Lerninhalte so aufbereitet, dass die Lernenden sie je nach Wissensstand abrufen können, das Gelernte wiederholen und reflektieren können.
Beim Trainieren von Arbeitsabläufen, etwa im Maschinenbau, hilft Augmented Reality (AR) schon seit einigen Jahren, indem sie ein virtuelles Lernumfeld schafft, das die nötigen Informationen liefert. Es gibt AR-Apps für Montage und Wartungen von Maschinen und eigene Plattformen wie Reflekt One, über die man AR-Inhalte für Trainings selbst erstellen kann. Datenbrillen wie die Microsoft Hololens oder die neue Google Glass Enterprise Edition, aber auch einfach Smartphones und Tablets kommen für Augmented Reality-Trainings in Technik, Industrie und Produktion, aber auch in der Logistik, der Telekommunikation und im medizinischen Bereich zum Einsatz. Das Startup Osso VR bietet VR-Trainings für angehende orthopädische Chirurgen an: sie finden sich in einem Operationssaal wieder und müssen verschiedene Aufgaben lösen. Die VR-Trainings werden von Spitälern weltweit genutzt. Laut einer Evaluierung schnitten die Teilnehmer des Osso-VR-Trainings zwei Mal so gut ab wie die Teilnehmer klassischer Weiterbildungen.
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Hirn und Computer: Diese Kombination hat einiges an Science-Fiction-Potenzial für das künftige Lernen parat. Mit Brain-Computer-Interfaces werden per Elektroden am Kopf Hirnströme und -Signale gemessen. Sie können dabei helfen, maßgeschneiderte Lernsysteme zu entwickeln, wie ein Forschungsprojekt von Psychologen und Informatikern am Wissenschaftscampus Tübingen aus dem Jahr 2013 gezeigt hat. Anhand der EEG-Messungen konnten Lernunter- oder Überforderungen der Probanden sichtbar gemacht werden. Daraus wurde ein automatisiertes maßgeschneidertes Lernsystem für Schüler entwickelt, das sie weder unter- noch überfordern soll. Am Wissenschaftscampus wird inzwischen zu „Cognitive Interfaces“, also dem Einfluss von digitalen Technologien auf das Lern- und Entscheidungsverhalten des Menschen, geforscht – unter anderem zum Einfluss von Smartphones auf das Arbeitsgedächtnis. PC, Smartphone und Tablets fungieren als erweiterter Speicher unseres Gehirns: wir laden dort Informationen, To-Dos und Termine ab, das sogenannte Cognitive Offloading. Das funktioniert mobil besser als am PC, wie zwei Experimente am Wissenschaftscampus Tübingen gezeigt haben. Per Smartphone und Tablet machen wir also mehr Cognitive Offloading als mit der PC-Maus – und entlasten somit unser Gehirn eher.
Auch beim Übersetzen und Lernen von Sprachen ist die Künstliche Intelligenz zu einer echten Hilfe geworden. Das Startup DeepL bringt sehr gute Ergebnisse bei der Übersetzung von Texten, man muss sie nur mehr geringfügig nachbearbeiten. Travis, the Translator, ist ein KI-gesteuerter Echtzeit-Übersetzer im Pocket-Format: er dolmetscht mehr als hundert Sprachen. Mit der Business-Variante zeichnet es Meetings und Geschäftstreffen in zwölf Sprachen auf und übersetzt wenige Sekunden später das Gesagte. Das könnte spätestens dann spannend sein, wenn die chinesischen Geschäftspartner sich in ihrer Muttersprache besprechen, in der Annahme, man würde sie ohnehin nicht verstehen.
Fazit: Software hilft, menschliche Begleitung bleibt wesentlich
Künstliche Intelligenz wird das Bildungssystem auf eine neue Stufe heben. Betroffen sind alle: vom Kleinkind- bis ins Rentenalter. Schon in wenigen Jahren werden analytische Algorithmen und Lerndiagnostik per KI, intelligent-adaptive Lernsysteme und virtuelle Lernwelten zu den Standards in der Bildungslandschaft gehören. Hier zu investieren, lohnt sich. Manches werden wir gar nicht mehr erlernen müssen. Dabei dürfen wir nur eines nicht vergessen: den Menschen als soziales Wesen. Menschliche Begleitung wird beim Lernen und in der Persönlichkeitsentwicklung wesentlich bleiben – auch wenn Technologien unser Lernen auf ein neues Level heben.